Kalifornien, ein Garten Eden? Ohne Geld kann dieser zur Hölle auf Erden werden, sang die Folk-Legende Woody Guthrie 1937 in „Do Re Mi“. Er warnte seine Landsleute aus den staubigen Dust-Bowl-Staaten, die während der Weltwirtschaftskrise ins vermeintlich gelobte Land aufbrachen, vor der kalifornischen Fata Morgana. Sein Freund John Steinbeck schrieb das Buch zur Hymne (oder umgekehrt): In Früchte des Zorns erzählt der Nobelpreisträger die ergreifende Geschichte der Joad-Familie aus Oklahoma, die statt ins gelobte Land in eine Hölle der Ausbeutung und Erniedrigung gerät.
In diesem Sommer bin ich mit meiner Familie auf den Spuren der Joads unterwegs. Auf unserer Reise vom Nordosten der USA über Oklahoma und durch die Mojave-Wüste nach Kalifornien haben wir keine klapprigen Planwagen, stotternden Automobile und verhungernden Kinder gesehen, sondern jede Menge funkelnagelneue Wohnmobile, bullige SUVs und überernährte Menschen. Nichts erinnert an den amerikanischen Albtraum der 1930er-Jahre oder an die verheerende Wirtschaftskrise nach 2008. Die Wirtschaft brummt, und die Amerikaner konsumieren, als gäbe es kein Morgen.
Es gibt kaum ein Naturwunder oder historisches Wahrzeichen, an dem nicht ein paar grimmige Dinosaurier, kitschige Holzindianer oder Pappbüffel als Vergnügungspark posieren.
Auch Las Vegas ist wie Phönix aus der Krisenasche auferstanden: Die Hotels sind praktisch ausgebucht, und auf dem öden, braunen Wüstenboden sieht man die Holzgerippe zukünftiger Apartmentkomplexe zwischen fünfspurigen Stadtautobahnen wuchern. Auf dem kurzen Casino-Strip drängen und schubsen sich Tausende von einer Attrappe zur nächsten: von Venedig über Rom bis hin zum ägyptischen Luxor– nebenbei nehmen sie auch noch Paris und New York mit. Wenn man schon in Las Vegas ist, warum nicht an einem Wochenende die ganze Welt besuchen?
Sogar dem Präsidenten der Vereinigten Staaten kann man einen gefakten Besuch abstatten: Etwas abseits der Amüsiermeile prangt sein Name in goldenen Lettern auf einem schlichten, phallisch anmutenden Wolkenkratzer.
Was sich hinter dem Phänomen des Twitterer in Chief verbirgt (spoiler alert: nicht viel), das haben Biografen und Trump selbst zur Genüge offenbart: Nachzulesen in Die Wahrheit über Donald Trump von Michael D’Antonio und Trump – Wie man reich wird von ihm selbst. Freunde und Familienmitglieder teilen unser ungläubiges Entsetzen über die Trumpʼschen Chaoswochen in Washington. Interessant wird es, wenn wir Vertreter der 35 Prozent treffen, die nach wie vor fest zu ihrem Präsidenten stehen: Sie schweigen sich lieber aus. Über Politik und Religion, belehrte mich kürzlich ein amerikanischer Rentner, spricht man in seinem Land nicht.
Die meisten haben ohnehin andere Sorgen. Während die Wall Street von einem Rekord zum nächsten jagt, können viele die explodierenden Kosten für Gesundheit, Bildung und Wohnen einfach nicht mehr stemmen. Gentrifizierung ist das Thema Nummer eins im Land; die Einzigen, die mit ihrer Lage insgesamt zufrieden zu sein scheinen, sind Babyboomer im Ruhestand. Vor allem in Kalifornien haben sie das große Los gezogen: Häuser, die in den 1970er-Jahren entstanden, sind heute mitunter das Dreißigfache wert – während die eigenen Kinder ins Hinterland ziehen, weil sie sich das Leben in den boomenden Küstenregionen nicht mehr leisten können.
John Steinbeck würde seine alte Heimat nicht wiedererkennen. Wo einst Oakie-Familien wie die Joads für ihre Menschenwürde kämpften und ungebildete Wanderarbeiter wie in Von Mäusen und Menschen den Glauben an den amerikanischen Traum verloren, sind mexikanische Inseln mitten im fruchtbaren Salinas-Tal, der „Salatschüssel der Welt“, entstanden. In Soledad, dem Schauplatz vieler seiner Romane, leben heute zu über 90 Prozent Hispanoamerikaner. Wir sehen sie vom klimatisierten Auto aus gebückt auf Gemüsefeldern, Obstplantagen und Weinbergen schuften – zum Schutz gegen Pestizide in Spezialkleidung gehüllt. Sie haben die Jobs, die kein im Land geborener Amerikaner mehr machen möchte. Während wir die alte und neue Goldgräberstadt San Francisco über die chronisch verstopfte Golden Gate Bridge verlassen, lauschen wir noch einmal Woody Guthries traurigem Abgesang auf den Golden State: „California is a garden of Eden, a paradise to live in or see;/But believe it or not, you won’t find it so hot/If you ain’t got the do re mi.“
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Kalifornien, ein Garten Eden? Ohne Geld kann dieser zur Hölle auf Erden werden, sang die Folk-Legende Woody Guthrie 1937 in „Do Re Mi“. Er warnte seine Landsleute aus den staubigen Dust-Bowl-Staaten, die während der Weltwirtschaftskrise ins vermeintlich gelobte Land aufbrachen, vor der kalifornischen Fata Morgana. Sein Freund John Steinbeck schrieb das Buch zur Hymne (oder umgekehrt): In Früchte des Zorns erzählt der Nobelpreisträger die ergreifende Geschichte der Joad-Familie aus Oklahoma, die statt ins gelobte Land in eine Hölle der Ausbeutung und Erniedrigung gerät.
In diesem Sommer bin ich mit meiner Familie auf den Spuren der Joads unterwegs. Auf unserer Reise vom Nordosten der USA über Oklahoma und durch die Mojave-Wüste nach Kalifornien haben wir keine klapprigen Planwagen, stotternden Automobile und verhungernden Kinder gesehen, sondern jede Menge funkelnagelneue Wohnmobile, bullige SUVs und überernährte Menschen. Nichts erinnert an den amerikanischen Albtraum der 1930er-Jahre oder an die verheerende Wirtschaftskrise nach 2008. Die Wirtschaft brummt, und die Amerikaner konsumieren, als gäbe es kein Morgen.
Es gibt kaum ein Naturwunder oder historisches Wahrzeichen, an dem nicht ein paar grimmige Dinosaurier, kitschige Holzindianer oder Pappbüffel als Vergnügungspark posieren.
Auch Las Vegas ist wie Phönix aus der Krisenasche auferstanden: Die Hotels sind praktisch ausgebucht, und auf dem öden, braunen Wüstenboden sieht man die Holzgerippe zukünftiger Apartmentkomplexe zwischen fünfspurigen Stadtautobahnen wuchern. Auf dem kurzen Casino-Strip drängen und schubsen sich Tausende von einer Attrappe zur nächsten: von Venedig über Rom bis hin zum ägyptischen Luxor– nebenbei nehmen sie auch noch Paris und New York mit. Wenn man schon in Las Vegas ist, warum nicht an einem Wochenende die ganze Welt besuchen?
Sogar dem Präsidenten der Vereinigten Staaten kann man einen gefakten Besuch abstatten: Etwas abseits der Amüsiermeile prangt sein Name in goldenen Lettern auf einem schlichten, phallisch anmutenden Wolkenkratzer.
Was sich hinter dem Phänomen des Twitterer in Chief verbirgt (spoiler alert: nicht viel), das haben Biografen und Trump selbst zur Genüge offenbart: Nachzulesen in Die Wahrheit über Donald Trump von Michael D’Antonio und Trump – Wie man reich wird von ihm selbst. Freunde und Familienmitglieder teilen unser ungläubiges Entsetzen über die Trumpʼschen Chaoswochen in Washington. Interessant wird es, wenn wir Vertreter der 35 Prozent treffen, die nach wie vor fest zu ihrem Präsidenten stehen: Sie schweigen sich lieber aus. Über Politik und Religion, belehrte mich kürzlich ein amerikanischer Rentner, spricht man in seinem Land nicht.
Die meisten haben ohnehin andere Sorgen. Während die Wall Street von einem Rekord zum nächsten jagt, können viele die explodierenden Kosten für Gesundheit, Bildung und Wohnen einfach nicht mehr stemmen. Gentrifizierung ist das Thema Nummer eins im Land; die Einzigen, die mit ihrer Lage insgesamt zufrieden zu sein scheinen, sind Babyboomer im Ruhestand. Vor allem in Kalifornien haben sie das große Los gezogen: Häuser, die in den 1970er-Jahren entstanden, sind heute mitunter das Dreißigfache wert – während die eigenen Kinder ins Hinterland ziehen, weil sie sich das Leben in den boomenden Küstenregionen nicht mehr leisten können.
John Steinbeck würde seine alte Heimat nicht wiedererkennen. Wo einst Oakie-Familien wie die Joads für ihre Menschenwürde kämpften und ungebildete Wanderarbeiter wie in Von Mäusen und Menschen den Glauben an den amerikanischen Traum verloren, sind mexikanische Inseln mitten im fruchtbaren Salinas-Tal, der „Salatschüssel der Welt“, entstanden. In Soledad, dem Schauplatz vieler seiner Romane, leben heute zu über 90 Prozent Hispanoamerikaner. Wir sehen sie vom klimatisierten Auto aus gebückt auf Gemüsefeldern, Obstplantagen und Weinbergen schuften – zum Schutz gegen Pestizide in Spezialkleidung gehüllt. Sie haben die Jobs, die kein im Land geborener Amerikaner mehr machen möchte. Während wir die alte und neue Goldgräberstadt San Francisco über die chronisch verstopfte Golden Gate Bridge verlassen, lauschen wir noch einmal Woody Guthries traurigem Abgesang auf den Golden State: „California is a garden of Eden, a paradise to live in or see;/But believe it or not, you won’t find it so hot/If you ain’t got the do re mi.“
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